Recht hat der Sprayer aus Fritzlar mit seiner Aufforderung – Think out of the box. Aber warum eigentlich – was ist denn so schlimm an Schachteln?

Schachteln – also Brain-Boxes – klassifizieren – sie helfen uns Dinge bestimmten Ordnungen zuzuordnen und ein Verhaltensprogramm abzurufen, das dem Inhalt der Schachtel angemessen erscheint. Das ist extrem hilfreich, wenn man sich auf unbekanntem, unsicheren Terrain bewegt. Statt dauernd nach jedem Schritt meine Lage bewerten zu müssen, reicht mir die Schachtel, aus deren Kenntnis ich das passende Verhaltensmuster abrufen kann. Wenn ich über ein ausgeklügeltes Schachtel-System verfüge, fühle ich mich praktisch immer und überall sicher – selbst bei totaler Ahnungslosigkeit. Ich werde in der Lage sein Situationen einzuschätzen, naja, zumindest werde ich Situationen einschätzen und Entscheidungen treffen, die unmittelbaren Einfluss auch mich, die mich umgebenden Menschen und meine Umwelt Einfluss haben werden. Der niemals versiegende Strom von Erfahrungen und Erkenntnissen wird andauernd mit dem Schachtelsystem abgeglichen und darin verstaut.

Woher habe ich mein Brain-Boxes eigentlich? Die Gehirn-Schachteln sind natürlich keine physischen Lagerplätze, sondern vielmehr Regeln, kleine Daumenregeln, die uns helfen extrem schnell Entscheidungen zu treffen. In der Psychologie spricht man von Heuristiken. Heuristiken sind einfache Formeln, die es ermöglichen den schwergewichtigen, energiehungrigen langsamen Teil des Gehirns beim Entscheiden außen vor zu lassen. Wenn mein Hund sein Stöckchen fängt, dann berechnet er nicht die Flugbahn des Stockes unter Berücksichtigung des Luftwiderstandes und der Windrichtung (ich hoffe zumindest, dass er das nicht tut), sondern er nutzt ein Daumenregel um seine Laufrichtung und -geschwindkeit anzupassen. „Ich schaue auf den fliegenden Stock. Dabei versuche ich meinen Kopf in einem stabilen Winkel zu halten. Muss ich meinen Kopf nach hinten drehen, dann laufe ich zu schnell. Muss ich meinen Kopf nach vorne drehen, dann laufe ich zu langsam. Muss ich meinen Kopf gar nicht bewegen – komme ich genau da an, wo das Stöckchen landet und zwar genau dann, wenn das Stöckchen landet. Cool, oder?“

Als im Januar 2009 Kapitän Chesley B. Sullenberger vom Flughafen LaGuardia (New York City) Richtung Seattle startete war ihm nicht klar, dass die Anwendung einer solchen Daumenregel ihm und allen Passagieren das Leben retten würde. 3 Minuten nach dem Start flog er durch einen Schwarm Kanada-Wildgänse und die Triebwerke fielen aus. Flugzeugtriebwerke werden auf Vogelschlag getestet indem tiefgefrorene Hähnchen in die laufenden Triebwerke geschossen werden – diese wiegen zwischen 500 und 1000 Gramm. Kanadawildgänse wiegen 6 Kg und es waren viele. Das Standardprotokoll eines Flugkapitäns sieht nun vor, dass er zusammen mit dem ersten Offizier die entsprechende Checkliste durchgeht, die für den Fall des totalen Triebwerkausfalls vorgesehen ist. Dummerweise geht diese Checkliste von der Reiseflughöhe, also etwa 12 Kilometer aus. Sullenberger war jedoch erst auf 975m Höhe – da fängt man nicht mit einer Checkliste an. Sullenberger wandte die sogenannte Blickheuristik an.

  1. Fixiere einen Kratzer in der Windschutzscheibe
  2. Suche den Tower (des Flughafens wohin er zurückkehren wollte)
  3. Wenn der Tower im Verhältnis zum Kratzer nach unten sinkt, führt dich dein Gleitflug weit genug, sinkt er nach unten, schaffst du du es nicht.

Der Tower sank nach unten. Chesley B. Sullenberger entschied sich für eine Notwasserung und landete mitten auf dem Hudson-River. Zwischen dem Start in LaGuardia und der Notwasserung waren insgesamt nur drei Minuten vergangen und kein Mensch kam zu Schaden. Danach ging er dann mit dem Co-Piloten die Checkliste durch. Die angewandte Heuristik bewahrte ihn sein langsames Denken zu aktivieren, das ihm wahrscheinlich die Zeit geraubt hätte die lebensrettenden Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen einzuleiten.

Leider haben Heuristiken aber auch einen Haken. Unsere Gehirne nutzen sie so gerne, dass wir nicht mehr überprüfen, ja, gar nicht mehr auf die Idee kommen, dass die schnellen Ergebnisse falsch sein könnten. Wenn unser schnelles System eine Entscheidung getroffen hat, dann stellt es diese auch nicht mehr in Zweifel. Wann immer unser Gehirn eine Heuristik oder ein Muster erkennt, wendet es diese an und widmet sich anderen Aufgaben. Wenn unser Gehirn nun also Dinge wahrnimmt, die den Heuristiken und bekannten Mustern zuwider laufen, dann bemüht es sich mit aller Gewalt die Wahrnehmung mit der Erwartung in Einklang zu bringen – wir pressen es in eine Schachtel, auch wenn die Schachtel eigentlich gar nicht passt. Beispiel?

Das Auto und der Pferdehänger meiner Frau kosten zusammen 15.000 EUR. Das Auto kostet 10.000 EUR mehr als der Hänger. Also was kostet der Hänger? 5.000 EUR? Das sagt die Heuristik. Und sie sagt es so übermächtig, dass wir praktisch nicht mehr nach-denken können – unser eigenes Gehirn blockiert uns. Aber rechnet es aus – der Hänger kostet 2.500 EUR. Und so wie uns die Heuristik vorschnelle Ergebnisse aufzwingt, drängen uns die Brain-Boxes zu vorschnellen Bewertungen. In Wirklichkeit schauen wir uns ja eben nicht jedes Detail unserer Umgebung an und überlegen dann, welche Box passen könnte. Vielmehr schauen wir uns nur spezifische Merkmale an und ordnen an Hand derer die vermeintlich richtige Schachtel zu. Und wenn es eigentlich keine passenden Schachtel gibt, dann wird die eigene Wahrnehmung verbogen.

Entscheiden mit Brain-Boxes macht uns schnell – aber eben auch unflexibel. Verrückt, oder? Meistens wird doch Flexibel mit Schnell irgendwie gleich gesetzt. Nein, Boxen machen uns schnell und unflexibel, weil wir Veränderungen in der Umgebung nicht wahrnehmen und auch nicht sehen, dass unsere Boxen nicht mehr ein-eindeutig sind. Die Heuristik überprüft nur das Subjekt der Wahrnehmung, niemals die Wahrnehmung selbst. Die Daumenregel fragt, was in welche Schachtel passt, aber nicht ob die Schachtel selbst noch passt. Wenn exponentielle Entwicklung zu schneller Veränderung der Umstände führt, sind wir nicht in der Lage schnell genug unsere Heuristiken und Schachteln anzupassen. Das führt zu fatalen Trugschlüssen und Fehleinschätzungen – von wirtschaftlichen Fehlentscheidungen über das Verbreiten von Verschwörungstheorien, bis hin zu Fremdenfeindlichkeit und Hass auf alles, was nicht leicht in die eigenen Brain-Boxes passt.

Also – wer BrainBoxes braucht, sollte sie nicht nur anlegen, sondern auch hegen und pflegen und auch dafür sorgen, dass es einen BrainDrain gibt. Gelegentlich müssen wir den Müll nämlich auch mal abspülen.