Story Points, Business Points, T-Shirt Sizes – egal wie, wir versuchen unsere Arbeit in vergleichbare Größen einzufassen. In der klassischen Welt wurde der Aufwand geschätzt, in der agilen Welt ist es die Komplexität einer Aufgabe. Wieviele Punkte ich in einer Iteration liefern kann, das messe ich – und gehe dann davon aus, dass sich die Zukunft genau wie die Vergangenheit verhält, also selbstähnlich ist. Basierend auf dieser Annahme – die Zukunft ist die Wiederholung der Vergangenheit – werden nun Vorhersagen getroffen. Leider unterliegen wir hier einem bequemen Trugschluss, weil wir alles, was wir nicht kennen, damit auch gleich als unmöglich ausschließen.

Manche Vorhersagen kommen leichtgewichtig und fancy („wir haben eine Velocity von 200“) daher, andere eher schwergewichtig und tragend („mit einer Wahrscheinlichkeit von 85% werden wir die nächsten 30 Aufgaben in weniger oder genau 20 Tagen erledigen“). Egal wie, sie basieren immer auf einer linearen Extrapolation – der Unterschied zwischen gestern zu heute ist der Gleiche, wie der von heute zu morgen. Ich finde das seltsam – denn Agilität wird ja gerade deswegen eingeführt, weil wir in einer komplexen Welt leben und genau diese Komplexität beherrschbar machen wollen. Wie kommen wir also auf die Idee, mit nicht-komplexen Methoden in einem dynamischen Umfeld erfolgreich wirken zu können?

Agile Methoden begegnen der Komplexität, in dem sie sie in kleine, handhabbare Stücke schneidet und damit überschau- und beherrschbar macht – entweder temporal in Sprints, quantitativ durch Limitierung oder qualitativ durch Sequenzierung. Ist dies geschehen, gehen wir dann aber plötzlich davon aus, dass deren zeitliche Verteilung einem stetig linearen Anstieg gleicht. Schauen wir uns jedoch die Lieferleistung agiler Teams an, dann sehen wir immer eine S-Kurve. Bei einem funktionalen Team beginnt sie im unteren Bereich der y-Achse und verzeichnet dann einen exponentiellen (!) Anstieg, um dann schließlich wieder abzuflachen. Ein dysfunktionales Team produziert übrigens auch ein S-Kurve – allerdings im oberen Bereich der y-Achse und dann exponentiell fallend – in jeder Hinsicht produzieren dysfunktionale Teams also Fragezeichen.

Um in einer exponentiellen Welt Vorhersagen treffen zu können, müssen wir anfangen logarithmisch zu denken. Wir alle kennen die Geschichte von den Reiskörnern auf dem Schachbrett – Verdopplung pro Feld – 1,2,4,8 und so weiter. Wieviel Reis liegt auf Feld 64? Wenn ein Reiskorn 0.3 Gramm wiegt, dann liegen auf Feld 64 277 Milliarden Tonnen Reis; 540 Milliarden Tonnen auf allen Feldern zusammen – tausendmal mehr als der weltweite Reisertrag des Jahres 2018/19. Das Moore’sche Gesetz über die Verdopplung von Transistoren in integrierten Schaltkreisen – also die technische Seite der Digitalisierung – folgt den gleichen Regeln. Auf das Schachbrett übertragen stehen wir auf Feld 26. Wenn wir uns für die Veränderung von Feld zu Feld ein Balkendiagramm zeichneten, dann gäbe es nur einen Balken – nämlich den von Feld 26. Die 25 vorherigen sähen wie eine flache Linie aus. Der Unterschied zwischen Feld 25 und Feld 26 ist so gravierend, dass alles vorher zu einer Linie zusammengedrückt wird – und daher linear erscheint.

Aus dieser Schein-Linearität nun Vorhersagen über die Zukunft ableiten zu wollen, verkennt den Umstand, dass wir uns in einer s-Kurve befinden und Feld 27 so massiv anders sein wird, dass sich Feld 26 in die Reihe der schein-linearen Verläufe einreiht. Die Zeit des Micromanagements und der alles-wissenden Über-Führungskraft ist vorbei. Nur als Organisation können wir die Reiskörner auf unserem Feld kennen, als Individuum haben wir keine Chance mehr. Es ist nicht mehr die Aufgabe der Führung die Natur jedes Reiskorns beschreiben zu können. Die Aufgabe wird sein, die Unterschiede zwischen Feld 26 und 27 zu erkennen und Ideen zu haben, wie aus der Veränderung das eigene Handlungsfeld und der eigene Spielraum erweitert werden kann.